Joni Mitchell: Miles of Aisles - Albumcover

Wie mir Joni Mitchell half, Kontakte im Rotlichtbezirk von Sydney zu knüpfen

Miles Of Aisles war mein erstes Joni Mitchell-Album. Ein Live-Mitschnitt, 1974 bei Asylum auf Doppel-Vinyl erschienen. Als ich das Album kaufte, wollte ich so eine Art Best of haben. Damals wusste ich nicht, dass ich mit der Platte weltweit Kontakte knüpfen würde. Selbst im Rotlichtviertel von Sydney.

Die erste Seite enthält gleich zwei sehr gute Songs. Zum einen Big Yellow Taxi, das in einer Cover-Version der Counting Crows zusammen mit Vanessa Carlton 2003 wieder in die Charts kam. Den Abschluss der Seite bildet das grandiose Woodstock, ein Song über das Festival, an dem Joni Mitchell nicht einmal teilgenommen hat. Trotzdem wird David Crosby in der Wikipedia mit den Worten zitiert, „that Mitchell had captured the feeling and importance of the Woodstock festival better than anyone who had been there.“

Auf den folgenden drei Seiten sind weitere Mitchell-Klassiker zu finden. Darunter Blue, Circle Game, The last time I saw Richard, Jericho und das auch mehrfach gecoverte Both Sides Now. Die Auswahl der Songs und die Live-Atmosphäre machen Miles of Aisles zu einem sehr gute Album.

Woodstock halte ich für den besten Song auf diesem Doppel-Vinyl. Im Gegensatz zur Studio-Fassung hat die Live-Version einen coolen 70er-Groove. Trotzdem ist mein Lieblingslied des Albums das verhältnismäßig unbekannte Real good for free. Darin erzählt Mitchell wie sie am Tag des Konzerts ihr Hotel verlässt, um sich in der Stadt umzusehen. Sie kommt an einem Straßenmusiker vorbei, der Klarinette spielt. Und obwohl er „real good for free“ spielt, ignorieren ihn die Menschen.

Irgendwann in den 1980ern habe ich das Album gekauft und Real good for free zum ersten Mal gehört. Seither erinnert mich jeder Straßenmusiker, den ich irgendwo auf der Welt sehe, daran. Ich bleibe dann gerne stehen oder setz mich daneben und höre eine Weile zu.

Real good for free sollte die Hymne der Straßenmusiker sein, finde ich. In Kopenhagen und in Sydney, in London und in New York, in München und in Westerland hab ich Musikern auf der Straße zugehört und jeden gefragt, ob er den Song für mich spielt.

In der Friedrichstraße in Westerland hieß der Gitarrist Jan, und ich habe mir seine CD gekauft. Seine Geschichte erzähle ich ein anderes mal. Genau wie die von Ivan, den Akkordionspieler, den ich in der Kaufingerstraße, gleich neben dem Marienplatz in München traf.

New York

Aber von New York möchte ich gleich erzählen. Dort hörte ich John am Times Square zu. Er hätte perfekt in jeden Hippie-Film oder eine Aufführung von Jesus Christ Superstar gepasst. Joni Mitchell kannte er, aber nicht „meinen“ Song. Dafür durfte ich mir was wünschen. Nachdem er drei meiner Wunschlieder gespielt hatte, war der Platz um ihn mit Menschen gefüllt. John nickte mir lächelnd zu. Ich sollte mir mehr ausdenken. Also hab schnell eine gute Setlist auf die Beine gestellt.

Er hatte sich aus ’nem Pappkarton ein Schild gemalt, auf dem „Thanks“ zu lesen war und neben seinen offenen Gitarrenkoffer gestellt. Ein paar Pappen lagen noch dort herum. Auf die Rückseite von einer schrieb ich meine Liste. Ich hielt sie ihm hin und ging mit dem Finger meine Vorschläge durch während er spielte. Ein paar Songs fielen raus, aber die meisten gingen durch. Ich setzte mich im Schneidersitz neben ihn, kritzelte auf die übrigen Pappen die Songtitel und hielt immer eine vor mich. Ein bisschen kam ich mir wie Dylan im Video zu Subterranean Homesick Blues vor, auch wenn bei uns Bob Neuwirth und Allen Ginsberg im Hintergrund fehlten.

Bob Dylan – Subterranean Homesick Blues (Official Music Video).

Nach ’ner Stunde brauchte John ’ne Pause und hat mich auf’n Kaffee eingeladen. Den halben Nachmittag haben wir noch geplaudert und uns dann verabschiedet. Nach dem durchschlagenden Erfolg meiner Setlist habe ich für einen kurzen Augenblick überlegt, Musikproduzent zu werden. Das steht immer noch auf meiner Todo-Liste, gleich hinter „Kneipe eröffnen“ und „Pilot werden“.

Als ich einmal in London war, hörte ich Brian zu, der ausschließlich Beatles-Cover spielte. Auch darüber schreibe ich später noch. Frederik spielte mit kleiner Band auf dem Amagertorv, einem der zentralen Plätze in Kopenhagen. Er ist neben Ivan der einzige Straßenmusiker in meiner Sammlung, den ich nicht auf Real good for free angesprochen habe. Dafür war’s die  beste Performance und seine Platte verdient einen eigenen Artikel.

Sydney

Bleibt noch von June zu erzählen. Es war vor etwas mehr als zehn Jahren. Ich war mit einem Freund in Australien unterwegs und in Sydney wollten wir die Hotelkosten im Rahmen halten. Wir haben ein ganz gutes Hotel gefunden, das aber gleich nebem dem Rotlichtbezirk lag. Der Weg vom Hotel zur U-Bahn führte uns immer vorbei an Stripshows und Bordellen, Sexshops und Darkroom-Kneipen. Daneben gab es eine Reihe von „normalen“ Kneipen, Restaurants und Clubs.

Eines Nachmittags war ich allein unterwegs zur U-Bahn. An einer Ecke saß June auf einer Treppe, spielte auf Ihrer Gitarre und sang. Ich hatte es nicht eilig, also blieb ich, um ein paar Songs zu hören. Die anderen Zuhörer sahen nicht nach Touristen aus. Sie wirkten eher wie Leute aus der Gegend. June kannte offenbar einige von Ihnen, und sie plauderten zwischen den Songs miteinander. Einen Hut auf dem Boden oder einen offenen Gitarrenkoffer gab es nicht. Ich stand ein wenig abseits, lehnte mich an eine Laterne und fühlte mich deplaziert. Nach zwei oder drei Stücken war ich mir nicht mehr sicher, ob June wirklich öffentlich spielte. Es schien mir ein Treffen mit Freunden zu sein, das nur zufällig auf der Straße stattfand. Gerade bevor ich gehen wollte, sprach sie mich an. Offensichtlich war ich wirklich der Fremdkörper in der Runde, aber trotzdem willkommen. Wir sprachen über Musik und Reisen; zwei Themen die in der Situation nicht weniger originell sein konnten. Für Smalltalk mit Straßenmusikern bin ich ja dank Joni Mitchell gut gerüstet. Von Real good for free hatte jedoch auch June noch nie gehört.

Sie hat mir all ihre Zuhörer vorgestellt und ich habe jeden Namen sofort vergessen. Ich fühlte mich immer noch wie auf einer Party, bei der man außer dem Gastgeber niemanden kennt; nur dass ich hier nicht mal den Gastgeber kannte. Als ein weiterer Freund von June dazukam, nutzte ich die Gelegenheit, mich zu verabschieden. Sie stellte mir noch schnell John vor, „a friend of mine“, und mich ihm, „he’s from Germany“. Dann ging ich.

Am Abend wollte ich über die Harbour Bridge laufen. „Über“ ist wörtlich zu verstehen. Die Tour heißt „Bridge Climb“ und führt über die 130m hohe Stahlkonstruktion der Hafenbrücke, 80m über der Fahrbahn. Der Freund, mit dem ich in Australien unterwegs war, hat Höhenangst, also machte ich die Tour allein. Eine sehr intensive Einführung sorgt dafür, dass der kommende Bridge Climber keinen Fehltritt macht und stellt die Regeln für die Tour vor. Zur Sicherheit bekommt man einen Overall, eine Taschenlampe, die man an der Stirn trägt und einen Gurt angelegt und wird über ein Drahtseil in eine Führungsschiene am Geländer eingeklinkt. Ein Ausklinken ist während der Wanderung nicht möglich.

Wir waren eine Gruppe von etwa 10 Personen, und wir wurden nach und nach eingeklinkt. Als ich an der Reihe war, drehte sich mein Vordermann um: „Hi“. Einen Moment dauert es, bis ich begriff, dass er mich meinte. „Hi“ erwiderte ich, hob meine Hand zum Gruß und erkannte erst dann John wieder. Er hatte Jeff, einen Freund aus England zu Besuch, und machte deshalb diese Touristentour mit. Dann ging es los. Fast zwei Stunden dauert der Bridge Climb. An mehreren Stellen stoppten die Tourguides und machten Fotos der Teilnehmer in kleinen Gruppen. Offensichtlich war ich Teil einer Dreiergruppe. Wie zu erwarten konnte man die Fotos anschließend zur horrenden Preisen erwerben, was so ziemlich jeder auch getan hat. Als wir auf unsere Abzüge warteten, hab ich Jeff und John gefragt, ob Lust hätten, ‚was Trinken zu gehen. John machte daraus gleich ein gemeinsames Abendessen. Da Jeff und ich beide ortsunkundig waren, überließen wir John die Auswahl des Restaraurants. Mit dem Taxi sind wir nach Darlinghurst gefahren.

Ich kannte den Stadtteil noch nicht und sah mich neugierig um. Ein Szeneviertel mit vielen Regenbogenflaggen an Restaurants und Kneipen. Noch immer auf Smalltalk eingestellt, erzählte ich den beiden, dass der Regenbogen in Deutschland ein Zeichen von Schwulen und Lesben sei. Sie sahen sich an, grinsten, sahen mich: „That’s international“.

Der Moment der Erkenntnis bescherte mir eine plötzliche Retrospektive des Tages. Was war bisher geschehen? Im Rotlichtviertel habe ich John kennengelernt, ein schwuler Krankenpfleger, der in Bondi Beach wohnte. Am frühen Abend traf ich John und seinen schwulen britischen Freund Jeff auf der Harbour Bridge wieder. Bis dahin war es nichts weiter als eine zufälligen Begegnung. Doch dann habe ich vorgeschlagen, zu dritt etwas trinken zu gehen, und nun stand ich mitten im Homosexuellen-Kiez von Sydney, und hatte John die Wahl des Ortes für die weitere Abendgestaltung überlassen. Kurz gesagt: Für einen heterosexuellen Mann die perfekte Ausgangslage für einen schönen Abend am anderen Ende der Welt.

Und genau das wurde es auch. John hatte ein kleines Restaurant ausgesucht, in dem er Stammgast war. Die Chefin begrüsste uns alle mit einer Umarmung, angedeutetem Kuss auf die Wange und einer Herzlichkeit, die größer nicht sein könnte, selbst wenn ich zehn Jahre jeden Abend dort verbringen würde. Jeff und ich gehörten gleich zur „Familie“. Es war ein Abend fernab von allen ausgetretenden Touristenpfaden. Eine Zeit wertvoller als jede andere.

Für den Heimweg habe ich ein Taxi genommen. Als wir uns verabschiedet haben, haben wir keine Telefonnummern oder Mailadressen ausgetauscht. Kein vorgetäuschter Versuch, aus dem flüchtigen Kreuzen unserer Wege einen dauerhaften Kontakt zu machen. Wir würden uns nicht wiedersehen, das war jedem klar.

Von Sydney führte mein Weg nach Melbourne, eine Weile durch Victoria und dann nach Canberra. Dort hatte der Freund, mit dem ich reiste, beruflich zu tun. Mich hat die australische Hauptstadt gelangweilt. Ich verließ die Stadt und flog allein zurück nach Sydney, bevor wir uns im Norden wiedertreffen wollten. Ich stieg im selben Hotel ab, kannte die Gegend und die Wege. Vom Flughafen mit der U-Bahn und dann ein paar Minuten zu Fuß zum Hotel. Ich ging an der Stelle entlang, an der June real good for free gespielt hat und traf – John. Er war auf dem Heimweg von seiner Arbeit.

Am andern Ende der Welt, in einer Stadt mit ein paar Millionen Einwohnener, steige ich aus dem Flieger, fahre ein paar Stationen mit der U-Bahn und treffe einen Menschen, den ich kenne. Das Gefühl, ein Tourist zu sein, verlor ich endgültig als ich ihm von Melbourne erzählen sollte; er war noch nie dort.

Nach den vielen Begegnungen frage ich mich, ob überhaupt jemand Real good for free kennt. Ein guter Song, und doch auf Miles of Aisles nur einer unter mehreren. Das Album ist auch heute noch eine klare Kaufempfehlung.

This entry was posted on Samstag, Juni 9th, 2012 at 15:32 and is filed under Platte. You can follow any responses to this entry through the RSS 2.0 feed. Both comments and pings are currently closed.

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