Rubáiyát
Vermutlich gibt es für jede Art zwanghaften Verhaltens Schlüsselreize, die eine unvermeidbare Reaktion auslösen. Für Pawlows Hunde war das Klingeln des Glöckchens der auslösende Reiz, die daraus folgende Reaktion war der Speichelfluss. Für Philatelisten mag es das zufällige Auffinden eines Schwarzen Einsers in Opas wertlos geglaubter Sammlung sein, die Herzrasen und Schnappatmung auslöst. Literaturbesessene empfinden vielleicht ein wohliges Gefühl, wenn sie eine Originalausgabe von Dostojewski oder Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in einem staubigen Antiquariat aufspüren.
Bei Vinylabhängigen ist es nicht anders. Zwar hat man uns im Laufe der Jahre Ersatzdrogen zur Verfügung gestellt, aber im Gegensatz zu Methadon für Heroinsüchtige, helfen CDs bei Vinylsucht deutlich schlechter. Wenngleich es zweifellos etwas Erhebendes hat, etwa auf einer Plattenbörse eine alte Originalpressung zu finden, oft genug geht es doch darum, die seltenen Stücke zu finden; und wenn es nur auf einem Rerelease ist. MP3 und Co. und der Download von Musik werden womöglich einiges daran ändern; aber das Aufspüren des Besonderen bleibt spannend.
Manchmal passiert es auch, dass nicht das alte Original, nicht die gut erhaltene 180g-Pressung eines Meilensteinalbums die Faszination auslöst, sondern eine Neuerscheinung.
Eine solche Neuerscheinung war 1990 Rubáiyát. Erschienen anlässlich des 40jährigen Bestehens von Elektra Records. Enthalten sind Songs von allen(?) Musikern und Bands, die zu der Zeit bei Elektra unter Vertrag standen. Dazu gehörte Jackson Browne, insofern verstand es sich von selbst, dass ich das Album kaufen musste. Es war eine Zeit, in der ich noch immer keine besondere Begeisterung für CDs entwickelt hatte. Aber auch eine Zeit, in der 10 Mark mehr oder weniger einen wichtigen Unterschied bedeuteten. Und so stand ich vor einer schwierigen Enscheidung: Vinyl oder CD. Zum ersten Mal war eine Neuerscheinung, die ich haben musste, als CD billiger als das Vinyl. 100 Mark für das Vinyl, wenn ich mich recht erinnere, 60 für die Doppel-CD. Ich habe das Vinyl nicht gekauft und bedaure es noch heute. Ein als „neu“ bezeichnetes Exemplar kostet heute, während ich diesen Artikel schreibe, bei Amazon übrigens 230 Euro.
Aber wenn ich davon absehe, ist Rubáiyát ein Schatz, denn jeder Song ist etwas Besonderes. Die Elektra-Künstler haben nicht einfach eines ihrer Lieder beigesteuert. Nein, alle Aufnahmen sind neu eingespielt und – das ist das Wichtigste – es sind ausschließlich Coverversionen. 39 an der Zahl. Aufgrund der Menge an einzigartigen Aufnahmen, kann ich gar nicht alle Songs in einem Artikel unterbringen. Ich werde mehrmals über Rubáiyát schreiben müssen.
Zu Beginn sei eine Band erwähnt, die in den 1980ern über Jahre erfolgreich war, dann aber doch recht plötzlich verschwand: The Cure, das Pop-Spin-off der Grufti-Szene, pardon, Dark Wave. Mit Friday I’m in Love haben sie einen lupenreinen Popsong abgeliefert, den sogar ich gut fand. Wer nicht zum harten Kern der Fangemeinde gehörte, könnte The Cure fast für ein One-Hit-Wonder halten. Ihre Popularität ging jedoch weit darüber hinaus. Bei einem Festival, dass ich 1991 in Belgien besucht habe, waren sie Headliner – vor Bob Dylan, was vielleicht der Grund für dessen mangelnde Spiellaune war. Eins hat The Cure immer hervorragend geschafft: Ihre Lieder trugen den typischen, unverwechselbaren Cure-Sound.
Das ist auch auf Rubáiyát so. Dort sind sie mit einem Cover von Hello I love you vertreten. Der Song ist im Original 1968 auf Waiting for the Sun von The Doors erschienen. Die Coverversion halte ich für sehr gelungen. The Cure ist eine Melange gelungen, die den Sound des Originals in Teilen erhält, ohne auf den Cure-eigenen Klang zu verzichten. Für Letzteres ist natürlich Robert Smith‘ manchmal jaulender Gesang verantwortlich; eines der Markenzeichen von The Cure.
Neben der 3:25 Minuten langen Fassung, die das erste Lied auf Rubáiyát bildet, ist eine Besonderheit, dass Hello I love you auch das letzte Stück des Albums ist . Ebenfalls von The Cure, diesmal aber nur 0:10 Minuten lang. Auf diesem Track zerlegen sie den Song fachmännisch. Musik und Gesang besitzen ein so hohes Tempo, dass man nicht wirklich etwas erkennt. Der Hörgenuss ist eingeschränkt, aber das Ziel der Aufnahme ist erreicht. Rubáiyát ist von Hello I love you und The Cure eingerahmt, und das Ende sorgt bei jedem Ersthörer für ein Schmunzeln.
Auch wenn das für’s Erste genügen soll, um Neugier für Rubáiyát zu wecken, seien wenigstens ein paar der Musiker verraten, die noch ausführlich Erwähnung finden müssen. Überraschende Coversongs steuern Tracy Chapman, Billy Bragg und Faster Pussycat bei. Der Song der Gipsy Kings ist nicht minder unerwartet, es sei denn man kennt den Soundtrack des acht Jahre später gedrehten Films The Big Lebowski. All das gibt’s dann in einem oder mehreren kommenden Postings. Wer nicht so lang warten will, kann sich das Album kaufen. Von mir gibt’s eine klare Kaufempfehlung.